spacer THE SWEETEST MELODY IS AN UNHEARD REFRAIN
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Katalogtext von Dr. Petra Leutner, 2005

"About Schmidt"

Silke Andrea Schmidt arbeitet in ihren Installationen mit unterschiedlichen Medien und Bedeutungsträgern. Zum einen werden serielle Elemente angehäuft, zum Beispiel Legionen weißer Mäuse aus Gummi, Schneckenhäuser in Latexüberzug, Sonnenblumenkerne, Grassamen. Zum anderen gibt es skulpturale Einzelstücke, symbolisch verwendete, teilweise bearbeitete Naturelemente und die Inszenierung zivilisatorischer Details. Matratzen, bezogen mit Naturmaterial, ausgestopfte Waldtiere, Fundstücke aus der Natur, Insignien des Heilens: Wundpflaster, Mull. All diese Dinge werden miteinander kombiniert. An den Wänden hängen Photos von Tieren oder Naturszenerien. Die Abbildungen können durchaus für sich alleine stehen und werden zuweilen entsprechend präsentiert, wie auch eine Werkgruppe von Filzbildern, die mit Naturmotiven bestickt sind. Die jeweiligen Elemente der Installationen fungieren je nach Anordnung und Bearbeitung also im Kontext von Reihungen, als skulpturale Unikate, als buchstäblich gemeinte Objekte oder auch als Symbole und gehen untereinander neue Beziehungen ein. Symbolisch angedeutet werden Reinheit und Unschuld durch weiße Lilien, Wachstum durch Samen, apokalyptische Momente einer Perversion der Natur durch eine Mäuseinvasion oder durch Feuer, Fluchtimpulse und Ungeschütztheit durch die ausgestopften Waldtiere, in Entsprechung dazu Fürsorge und Heilung, metonymisch evoziert durch Pflaster und Verbände.

Schmidt arrangiert die Elemente zu optischen Ensembles im Raum. Die skulpturale Gestaltung führt den Betrachter in einen Kosmos hinein, den er schauend erfahren kann. Dieser Kosmos mag sich geheimnisvoll artikulieren (Wunderkammer - Und alles Fleisch wird zu Gras), ironisch (Inmausion) oder kindlich-mythisch (The sweetest melody is an unheard refrain). Das Vokabular bleibt sich mit kleinen Variationen und Erweiterungen immer gleich, und die angestrebte moderne Archaik der Arrangements wird widergespiegelt in Titelgebungen, die sich ebenso auf die Bibel wie auf Popsongs beziehen.
Traumhafte und alptraumhafte Szenen entstehen. Bilder, die sich einprägen wie Augenblicke, die man als Kind erlebt hat. Wer auf dem Lande aufwuchs, sah öfters ein angefahrenes Reh, brütete Kaulquappen aus, trug eine Streichholzschachtel mit einem zappelnden Eidechsenschwanz herum. Als Kind entscheidet man sich nicht für oder gegen Grausamkeit. Archetypisches tritt hervor, man sieht, und die Dinge nehmen beruhigende oder erschreckende Formen an.
In dem Zartheit wie Bedrohung der Natur evozierenden Vokabular werden Schmidts Werke ausformuliert. Tierwelt und Pflanzenwelt dienen als Projektionsfläche archaischer Regungen und des vorherrschenden Gefühls von Verlust. Dabei wird offenbar, daß die Balance von Natur und Kultur zerbrochen ist. Bot die Ordnung der Tierwelt sich einmal an als totemistisches Klassifikationssystem menschlichen Geistes oder waren die Tiere respektierte Partner und Gegner im Kampf ums Überleben, so zeigen sie nurmehr die Verwundbarkeit des Lebens überhaupt.

In der aktuellen Installation The sweetest melody is an unheard refrain dominiert die Farbe weiß. Die Installation ist sehr konsequent im Hinblick auf die Verbindungen, die die einzelnen Elemente untereinander eingehen.
Wieder treffen wir auf die weißen Lilien, die Waldtiere, hier sind es ein auf Mull gebettetes weißes Reh und ein weißer Hase, und auf eine Photographie an der Wand von weißer Katze und weißem Reh. Dazu kommen - Kindheit und Unschuld heraufbeschwörend an der Grenze zum Kitsch - einige verbrannte und einige mit eingesticktem Rehmuster versehene Schaukeln. Als serielle Elemente liegen Sonnenblumenkerne aus.

Um herausgehobene Einzelexemplare einer Gattung wie Albinos, um die weiße Löwin, das weiße Reh, ranken sich immer schon mythische Vorstellungen.
Totemistisches und magisches Denken leben darin fort. Für Jäger ist ein weißes Reh tabu. Niemand darf ein weißes Reh erschießen, denn dessen Tod bedeutete, daß ein Mitglied der betroffenen Jägerfamilie erkranken wird.
Das weiße Waldtier bietet sich in seiner Herausgehobenheit der kulturellen Aneignung an, es besitzt die Kraft, eine Mythe zu generieren. Im vorliegenden Fall beglaubigt es eine Art Kontrakt zwischen Tierwelt und Menschenwelt und eine aller Jagd vorgängige Regel, die die Ordnung des Jagens stiftet und erhält. Sie gemahnt als in die Urzeit zurückprojiziertes ehernes Gesetz den Jäger an die vorgeschichtliche Einheit von Natur und Kultur und an die verbürgte Würde und Fairneß der Jagd. Sie gemahnt außerdem daran, daß es für den Menschen generell ungeschriebene Gesetze gibt im Umgang mit dem Tier.
Der Titel der Ausstellung The sweetest melody is an unheard refrain steht in engem Verhältnis zu solchen Vorstellungen. Im Titel eines Songs der Gruppe ABC klingt dieselbe Logik an wie in Franz Kafkas Erzählung Der Gesang der Sirenen. In ihr wird das stumme Lied als süßester und gefährlichster Sirenengesang dargestellt. Das nicht erklungene und nicht gehörte Lied manifestiert die höchste Form des Gesangs. Es ist die Rückversicherung aller erklingenden Lieder und installiert das Singen als solches.

Unhörbarer Gesang und weißes Reh nehmen herausgehobene Positionen ein und stehen für das, was nicht selbst erscheint oder als Erscheinung zumindest anderen Gesetzen unterliegt als alles andere. In dieser Hinsicht können sie Gefäß und Symbol eines gelingenden Übergangs werden vom Nichts zum Seienden, von der Natur zur Kultur.
Daß solche Übergänge und ihre Protagonisten in Mythen und Erzählungen gebannt und geheiligt werden, bezeugt das Risiko aller Kultur und erinnert an die Verpflichtung, die sie eingeht gegenüber dem, was jeweils ihr anderes ist, was als Natur bezeichnet wird. Mögen die verbrannten Schaukeln der Installation The sweetest melody is an unheard refrain an die Katastrophe erinnern, die das Vergessen solcher Verpflichtung und solcher Erzählungen nach sich zieht.

Ausstellung “The sweetest melody is an unheard refrain“ von Silke Andrea Schmidt im 1822-Forum der Frankfurter Sparkasse



Zu bestellen:
Katalog "The sweetest melody is an unheard refrain" (pdf = 5 MB)
© Silke Andrea Schmidt · 2005
52 Seiten, Text von Dr. Petra Leutner
Auflage: 1000
Preis: 18,– € zzgl. Versandkosten
bei info@silke-andrea-schmidt.de

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