spacer WUNDERKAMMER_UND ALLES FLEISCH WIRD ZU GRASS
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spacer Katalogtext von Dr. Petra Leutner, Juli 2002

„Tierkampfzone“

I.
Das Tier hat keinen Eigennamen, keinen Paß, keine soziale Identität - höchstens einen Impfpaß, Stammbaum oder Züchternachweis. Beim Rennpferd kann man um des Bluts willen den Ahnenstamm nachverfolgen; beim Hund die Reinheit der Rasse bestätigen. Von der geschlachteten Kuh wird der Metzger ein Zertifikat als Herkunftsgarantie seines Rindfleischs aushängen. Doch was ist schon ein Personalausweis? Was ist ein Paß?
Die Haut des Tiers ist nicht unantastbar. Sie kann perforiert werden, sie trägt Brandings, sie verbirgt Mikrochips. Das Fell wird verteilt. Über das Leben der Nutztiere und Haustiere verfügen Menschen. Es gibt noch wild lebende Tiere: Vögel, Ameisen, Bären und andere. Wie ihre zahmen Artgenossen sind auch sie nicht der Sprache, nicht der menschlichen Sprache mächtig. Sie können kein Zeugnis ablegen, sie sprechen nicht. Sie hinterlassen keine lesbaren Zeichen. Was einem Tier geschieht, wird von ihm nicht ausgesagt.
Das Tier wird es nie bezeugen und es wird sein Leiden und seine Freude nicht beschreiben. Es mag jaulen und fauchen, wenn es geschlagen wird, später wird es den Schmerz für sich behalten. In den tierischen Lauten tritt die Stimme hervor, schreibt der Philosoph Giorgio Agamben, nur die menschliche Stimme wird von der Sprache aufgezehrt.
Die semantische Stummheit des Tiers - Stummheit für uns - gibt sie die Wahrnehmung frei? Im Augenblick leben, ohne Zukunfts-sorgen, ohne Angst, ohne Reflexion, den Sinnen ergeben, vom Instinkt begrenzt?

II.
Tiere bieten ein universell und ständig verfügbares Reservoir an Projektionsmöglichkeiten, sie dienen als Symbole und als Instanzen anthropomorpher Spiegelung.
Das Andere wird auf das bekannte Andere reduziert: Der Fuchs ist die menschliche Schlauheit, der Hund die menschliche Treue. Die Fabel verteilt die Rollen der Menschengesellschaft im unwegsamen Gelände eines fremden Gegenübers. Ein anderes Bild, das wir vom Tier haben: das Animalische, die Sinnlichkeit, die Virilität. Negativ gewendet: im Klassizismus der Bereich der Notwendigkeit, der im Gegensatz steht zum Reich der Freiheit, von der Kirche dämonisiert als Triebhaftigkeit und Quelle der Sünde.
Muß, wie die Bibel es will, das Weib dem Mann, das Tier dem Menschen unterworfen sein? Ist es möglich, aus der überliefer-ten Opposition Mensch - Tier herauszutreten? Dem Anderen sein Anderssein zu lassen? Gilles Deleuze schreibt, der Künstler Francis Bacon habe Menschsein und Tiersein nicht aufeinander reduziert. Die von ihm gemalten, gesichtslosen Köpfe zeigten einen Geist, der Körper sei, den “Tiergeist” des Menschen, und jede Figur Bacons sei ein Paar, nämlich “der in einem latenten Stierkampf mit seinem Tier verwachsene Mensch” (Gilles Deleuze, Francis Bacon - Logik der Sensation).

III.
Das Feld der Unterscheidungen ist abgesteckt, die Zeichen und Symbole existieren. Doch wenn sich die Konstellationen ein wenig bewegen, verschieben sich auch die Bedeutungen. Man kann mit den Symbolen arbeiten, die überlieferten Bilder entstellen. Das Tier läßt sich der männlichen Projektion von Potenz durch Übertreibung oder leichte Verschiebung entziehen. Der Effekt stellt sich ein, wenn bei Silke Andrea Schmidt eine Gruppe von Hirschen auf nackter Haut zu sehen ist oder penisartige Formen, teils kristallin, teils fleischig, die sich weder Mensch noch Technik oder Tier eindeutig zuordnen lassen. Das krude Leben ist der Bereich, in den Menschen und Tiere gleichermaßen eingepflanzt sind: Mit dem Körper in seiner ganzen Ausdehnung, der unwiderruflich der Endlichkeit anheimgestellt ist, symbolisiert im Nabel, der Wunde und Narbe, die an die Geburt erinnert. Man sieht bei Silke Andrea Schmidt verpflasterte Dinge, die erinnern an umwickelte Haut mit verstopften Poren: Negationen des Empfindens, Phasen einer Heilung. Schuhe liegen in einem Netz als hätten sie fischige Schuppen, Pistolen sind verpackt. Luftmatratzen wurden mit Heu überzogen.
Die ursprünglichen Gegenstände sind bekannt, als von fingierter Zeit oder Natur überformte Skulpturen sehen sie jetzt anders aus. Ist ihr Exil die Natur oder die Kultur?
Die Aufladung durch christliche Symbole und Insignien der Passion verdichtet den Aspekt des Opfers. Die katholische Opfermetaphorik sieht das unschuldige Lamm unter dem Kreuz. Eine weitere Verschiebung der Bilder erfolgt: Das Tier und das Tier im Menschen sind nach jahrhundertelanger Naturbeherrschung jetzt selber die Opfer. In diesem transformierten christlichen Kontext gedeiht auch die Beschwörung der Überschreitung als heiliger Eros im Sinne George Batailles. Das Sehen wird erotisiert und auf Detailaufnahmen eingestellt wie in Batailles Geschichte des Auges. Was das Ganze ist, bleibt absichtlich unklar.
In den Arbeiten von Silke Andrea Schmidt gibt es Sentimentalitäten; Maulwurfspfoten und Löwenzahn. Auch das Unheimliche wird heraufbeschworen.
Die Sünde, die die Strafe nach sich zieht: So folgt auf die Pervertierung der Natur die Abernatur, die Apokalypse in Gestalt monströser Tiere oder harmloser Wolpertinger. Diese alptraumartigen Geschöpfe sind die Gespenster einer die Abgrenzung fetischisierenden Vernunft. Sie sind ebenso wirklich geworden wie das spielerische Unterlaufen der Grenzen von Maschine, Mensch und Tier.

 

 

 

Katalogtext von Andrej Tarkowskij, 1969

„Die versiegelte Zeit“

Zeit und Erinnerung sind einander geöffnet, sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille.
Es ist vollkommen klar, daß es außerhalb der Zeit auch keine Erinnerung geben kann. Und die Erinnerung wiederum ist ein äußerst komplexer Begriff.
Selbst wenn man ihre sämtlichen Merkmale aufzählen wollte, könnte man damit noch nicht die Summe all jener Eindrücke erfassen, mit denen sie auf uns einwirkt. Die Erinnerung macht uns verletzbar und leidensfähig. Es heißt, die Zeit sei unwiederbringlich. Das ist insofern richtig, als man wie man sagt, das Verlorene nicht zurückholen kann. Doch was bedeutet eigentlich das Vergangene, wenn für jeden im Vergangenen die unvergängliche Realität des Gegenwärtigen, eines jeden vorübergehenden Moments beschlossen liegt? In einem bestimmten Sinne ist das Vergangene weit realer, zumindest aber stabiler und dauerhafter als das Gegenwärtige. Gegenwärtiges gleitet vorüber und verschwindet, zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern.
Sein materielles Gewicht erhält es erst in der Erinnerung. Für den Menschen kann die Zeit nämlich nicht einfach spurlos verschwinden, weil sie für ihn lediglich eine subjektiv geistige Kategorie ist. Die von uns durchlebte Zeit setzt sich in unseren Seelen als eine in Zeit gemachte Erfahrung fest.

 

 

 

Arbeitstitel der ausgestellten Objekte (Auswahl)

Matratzen, Fischtrichter, Nerzhostienkissen (Passionskissen), Pistolen (oblivion), Vogelhäuschen, Kakteen, Hamstertablett, Kabelbinderbett (insomnia), gefiedertes Bett (space), Kokons, Kapselhauben, Erlen-Mardergatter, Krebs-Salzkästchen, kleine Sammeldosen, Zahnkiste, fliegender Hausschwamm, Schlingpflanzenkleid, Kätzchenlöffel, Sacknester, Tupferwurzel, Wachskartoffel, Muff, Netzfladen, Gerberaständer, Kapselbecher, Flaschenständer, Pflastertier, Kreuzbügel, Rothasen, Saugervasen, Federgans, Telefon, Knochenleimteller, target-Tassen, Moosquadrate, Mullsamen, Beutelsterne, Federjesus, Torftabletten, Sandteller, archangelsk, Netzschuhe, Latexkugelnester, Löwenzahn-kissenstuhl, Liebeskugelregal, Meisenbäume, Europalegenestaltar, Nester, Zuckerhalter, Rehfußständer, Rosshaartasche, Federballfilterkannen, Graskästen, Kofferjesus, Blasen, Hostienpasspartouts, Glasnudelfisch, MullKohlehügel, Samenbett, Mullkreuze, Brombeerbogen, Sternschnuller, Krebsschale, Passionsschuhe, Granatbabys



Zu bestellen:
Katalog "Wunderkammer_und alles Fleisch wird zu Gras..." (pdf = 6MB)
© Silke Andrea Schmidt · 2002
32 Seiten, Text von Dr. Petra Leutner
Auflage: 500
Preis: 18,– € zzgl. Versandkosten
bei info@silke-andrea-schmidt.de

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